Sagenhaftes Sylt – Sagen sind ein Stück der Sylter Identität
Sagen sind ein Stück der Sylter Identität. Entstanden vor langer Zeit, von Mund zu Mund weitergetragen: Wenn in vergangenen Zeiten der Winter seinen frostigen Mantel über die Insel legte und Stürme das Meer aufwühlten, dann rückten die Menschen am wärmenden Ofen enger beisammen und erzählten sich von wunderlichen Dingen. Dass uns eine große Zahl an Sagen überliefert wurde, ist in erster Linie einem Mann zu verdanken: Christian Peter Hansen (1803 – 1879), der bedeutendste Chronist der Insel Sylt. Was sich auf Sylt in längst vergangenen Zeiten gar Wunderliches ereignet haben soll, das lesen Sie nachfolgend. Jede Sage ist selbstverständlich wahr und hat sich so und nicht anders ereignet. Man muss nur daran glauben.
Ein Wahrzeichen der Insel ist die Keitumer Kirche St. Severin. Wer den massiven Kirchturm genauer betrachtet, der entdeckt im Mauerwerk zwei unförmige Granitsteine. Bei diesen Steinen handelt es sich angeblich um Abbilder der beiden Stifterinnen des Turms, zwei Nonnen namens Ing und Dung. Beim Bau des Kirchturms soll eine böse Prophezeiung ausgesprochen worden sein: Eines Tages werde die Glocke aus den Angeln brechen und den schönsten Jüngling der Insel erschlagen, später dann der ganze Turm zusammenstürzen und die schönste Sylter Jungfrau unter sich begraben. Tatsächlich stürzte die schwere Glocke am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1739 hinab und erschlug einen jungen Seemann. Seitdem, so wird gemunkelt, machen alle hübschen Sylter Mädchen aus Furcht einen großen Bogen um St. Severin.
Im benachbarten Tinnum erhebt sich in den südlichen Wiesen ein großer, runder Erdwall, der früher einmal als Kultstätte und Schlupfwinkel gedient haben soll. Dort, so behauptet die Sage, hatte dereinst ein raffgieriger Lehnsherr sein Quartier, der die Sylter unterdrückte und ihnen den letzten Pfennig abpresste. Wer sich weigerte, wurde von seiner Leibgarde kurzerhand ermordet, befehligte der Lehnsherr doch eine ganze Horde von Riesen. Nach Jahren des Jochs kamen dänische Krieger übers Meer gesegelt und stürmten die Tinnumburg von zwei Seiten. 120 Riesen wurden gefangen genommen und dem Scharfrichter vorgeführt. In der Nähe von Munkmarsch sollen sie in einer langen Reihe von Gräbern ihre letzte Ruhe gefunden haben.
Wer am Fuße des Morsumer Kliffs aufmerksam zu Boden blickt, dem werden eigentümlich geformte Röhren aus rotem Sandstein auffallen. Diese Röhren wurden vom Wind ausgeblasen, doch die Sage weiß: Es ist das Geschirr der Unterirdischen. Früher hausten nämlich Zwerge in den verschlungenen Gängen des Kliffs. Am Kliff hatten sich die Wichte eine Schmiede gebaut, in der sie Schalen, Krüge und anderes Gebrauchsgut herstellten. Auf der Heide pflückten sie Beeren und suchten Vogeleier, nachts aber tanzten sie bei Mondenschein auf den Hügeln. Sehen konnte die Gnome ein Mensch freilich nur dann, wenn er ein vierblättriges Kleeblatt bei sich trug.
In Wenningstedt trägt eines der zahlreichen Dünentäler im Norden des Dorfes den Namen Osetal und erinnert damit an die selbstlose Tapferkeit einer braven Frau. Deren Mann hatte während eines Festes im Streit einen Gast erschlagen und war getürmt. Seitdem ward er nicht mehr gesehen, doch als seine Flucht nach Jahren schon beinahe in Vergessenheit geraten war, gebar die Frau plötzlich ein Kind. Das machte die Wenningstedter misstrauisch, und als sie der Frau nachspionierten, entdeckten sie das Paar in einem verschwiegenen Dünental. Dort hatte der Totschläger zehn Jahre lang gehaust, treu verpflegt von seiner Liebsten. Da verziehen die Wenningstedter dem Mann seine schändliche Tat, führten das Paar nach Hause zurück und rühmten die unverbrüchliche Liebe der treuen Ose.
Nahe des Wenningstedter Dorfteichs befindet sich ein Hügel, der eine Grabstätte in sich birgt. Diese kühle Gruft ist der Denghoog, der übrigens auch besichtigt werden kann. Früher sollen sich an diesem Ort Zwerge versammelt haben, und in ihrer Mitte residierte auf einem steinernen Thron der Zwergenkönig Finn, behangen mit einem Mantel aus weißen Mäusefellen und einer funkelnden Krone auf dem Haupt. Nach seinem Ende soll Finn im Denghoog auch begraben worden sein.
Überhaupt waren die Zwerge früher auf Sylt weit verbreitet. Als die Menschen die Insel in Besitz nahmen, zogen sich die Wichte in die Braderuper Heide zurück, wo sie in Höhlen und Büschen Unterschlupf fanden. Die Zwerge trieben mit den Menschen so manchen Schabernack, bedienten sich in deren Speisekammern und versuchten, ihre Töchter zu stehlen. Eines Tages unternahmen die Sylter einen Feldzug gegen die Zwerge. Auf der Braderuper Heide kam es zu einer großen Schlacht, die viele Tote auf beiden Seiten forderte – unter ihnen auch der Zwergenkönig Finn. (fd)
(Foto: Deppe) Quelle: 12. Ausgabe der »SYLT en vogue«